Digitalisierungsprobleme im Gesundheitssystem

Diagnose: Systemfehler

Von Michael Gneuss und Katharina Lehmann · 2022

Deutschland hinkt bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems hinterher. Seit Jahren verhindern Bürokratie, Gerangel um Zuständigkeiten und fehlende digitale Infrastrukturen den technologischen Wandel eines der wohl wichtigsten Sektoren der Gesellschaft. Doch nun tut sich was in der Bundesrepublik. Die durch Corona offengelegten Schwachstellen sollen mit neuen Gesetzesinitiativen zügig behoben werden.

Mitten in einem blauen Zahlencode steht rot das Wort
Digitalisierung – im deutschen Gesundheitssystem noch nicht angekommen. Foto: iStock / Vitalii Petrushenko

Es ist eine App für alles: Omakanta, die Gesundheits-App der finnischen Regierung, speichert Diagnosen und Rezepte, Bluttests und Röntgenbilder, Impfungen und Organspende- oder Patientenverfügung. Kurzum: In der App sind alle relevanten Patienteninformationen gespeichert. Einloggen können sich Nutzerinnen und Nutzer mit dem elektronischen Identitätsnachweis (ID), der ab 2030 europaweit gelten soll, in Finnland aber schon seit Jahren verfügbar ist. Die Datenhoheit liegt bei den Bürgerinnen und Bürgern, doch auch Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser oder Krankenkassen haben Zugriff. „Die Menschen wollen ja, dass beim Besuch in einer Praxis oder im Krankenhaus die Behandelnden die ganze Krankengeschichte kennen und nicht unnütz weitere Untersuchungen gemacht werden“, erklärt Teemupekka Virtanen, der die App für die finnische Regierung entwickelt hat. Rund 40 Millionen Euro hat die Entwicklung gekostet, bezahlt habe der Staat. Die laufenden Kosten für den Betrieb, etwa 15 bis 20 Millionen Euro pro Jahr, zahlen jetzt Krankenkassen, Apotheken und Anbieter von Gesundheitsdiensten – im Schnitt sind das ein paar Cent pro Nutzung.

In Finnland klappt, was in Deutschland unmöglich erscheint: die konsequente und umfassende Digitalisierung des Gesundheitswesens. „Wir haben smartere Gesetze und weniger Bürokratie“, erklärt Timo Harakka, Minister für Verkehr und Digitalisierung in der finnischen Regierung, gegenüber dem „Handelsblatt“. Das locke Investoren und Forschende an. Zudem vertrauten Bürger, Behörden und Unternehmen den neuen Technologien. Denn Finnland habe von Anfang an alles für Netzsicherheit und Datenschutz getan und heute „die effizientesten Netze der Welt“, erklärt Harakka. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die finnische Gesellschaft ist mit ihren 5,5 Millionen Einwohnern bedeutend kleiner als die deutsche – und damit auch agiler und flexibler.

Digitalisierung verbessert die Versorgung

Nichtsdestotrotz: Deutschland muss sein Gesundheitssystem digitalisieren. Nur so kann die Gesundheitsversorgung in der Bundesrepublik auch in Zukunft mit den technologischen Innovationen mithalten und gleichzeitig bezahlbar bleiben. „Digitale Technologien können die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessern. Zudem eröffnet die zunehmende Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten in Verbindung mit modernen digitalen Analyseverfahren neue und weitreichende Möglichkeiten für eine stärker personalisierte Diagnostik und Therapie“, erklärt Irene Bertschek, Professorin für „Ökonomie der Digitalisierung“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Forschungsbereichsleiterin am ZEW in Mannheim und Mitglied der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI). Doch: „Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der Digitalisierung weit hinter anderen europäischen Ländern zurück. Gerade die aktuelle Coronakrise hat schonungslos aufgezeigt, dass das deutsche Gesundheitssystem massive Defizite bei der Digitalisierung aufweist.“ 

Die Ursachen für die mangelnde Digitalisierung hat das EFI zusammen mit dem Fraunhofer ISI in der Studie „E-Health in Deutschland – Entwicklungsperspektiven und internationaler Vergleich“ aufgedeckt. So gelten als Hauptbremser neben den schwierigen Akteurskonstellationen, unter anderem bedingt durch die Selbstverwaltung, insbesondere die überbordende Bürokratie, hohe Technologiekosten, Sicherheitsbedenken und regulatorische Unsicherheiten sowie fehlende Zuverlässigkeit der technischen Lösungen, die mangelnde Interoperabilität der Systeme, das Fehlen einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur sowie die teilweise fehlende Akzeptanz bei Patienten und Medizinern.

Es geht trotz der Digitalisierungsprobleme im Gesundheitssystem voran

Doch die Untersuchung zeigt auch: Es geht voran mit der Digitalisierung. „Nach langem Stillstand wurde mit den Gesetzesinitiativen der vergangenen Legislaturperiode eine wichtige Grundlage für die Beschleunigung der Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems gelegt“, weiß Tanja Bratan, die die Forschung am Fraunhofer ISI koordinierte. Um sie nun weiter voranzutreiben, brauche es aber weitere politische Initiativen und Maßnahmen auf Ebene der Bundesländer, des Bundes und der EU, die zum Beispiel digitale Anwendungen in der Breite verfügbar machen und spürbare Mehrwerte der Digitalisierung in der Versorgung schaffen. „Auf Basis unserer Studienergebnisse sehen wir unter anderem besonderen Handlungsbedarf beim Ausbau einer leistungsfähigen Breitbandinfrastruktur als Grundlage für die Digitalisierung, der Entwicklung einer E-Health-Strategie für Deutschland, einer besseren Vernetzung im gesamten Gesundheitssystem sowie einer deutlichen Verbesserung der IT-Sicherheit in Gesundheitseinrichtungen. Darüber hinaus sollte ein stetiges Monitoring die Umsetzung der Digitalisierung begleiten und in Reallaboren E-Health-Anwendungen erprobt werden. Aber auch der Aufklärung der Bevölkerung und der Verbesserung der digitalen Kompetenzen der Gesundheitsberufe sollte eine absolute Priorität zukommen“, fordert Bratan.

Wichtig sei zudem, alle Akteurinnen und Akteure des Gesundheitssystems, also Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser, Physiotherapeuten, Apotheken und Krankenkassen, mithilfe einer sicheren und effizienten Telematikinfrastruktur miteinander zu vernetzen. Diese Telematikinfrastruktur stelle als geschlossenes IT-Netz das Rückgrat der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens dar, heißt es in der Studie. Auf ihr laufen wichtige Anwendungen wie die elektronische Patientenakte, mit der allen Akteuren des Gesundheitswesens erstmals einrichtungs- und sektorenübergreifend medizinische Patientendaten zur Verfügung stehen, der elektronische Arztbrief oder das E-Rezept. Für weitere Anwendungen wie die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gebe es konkrete Vorgaben zur Umsetzung, weitere seien in Planung. „Die Telemedizin ist durch die Coronapandemie inzwischen in der Versorgung angekommen, vor allem in Form von Videosprechstunden, während Anwendungen wie der E-Arztbrief zwar vergütet, bislang aber nicht in großem Umfang genutzt werden. Die Gesetzesinitiativen der vergangenen Legislaturperiode und die mit ihnen verbundenen Anwendungen werden ihre Wirkungen größtenteils noch entfalten“, sind die Studienautoren um Tanja Bratan optimistisch.

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